Autor Thema: Im Reich der Raritäten  (Gelesen 5854 mal)

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Offline Smiley68

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Im Reich der Raritäten
« am: 01. August 2015, 19:05:56 »
Händler von Vorkriegs-Autoteilen: Im Reich der Raritäten

Wenn einmal im Jahr knapp 200.000 Besucher fünf Tage lang über die Oldtimermesse TechnoClassica in Essen flanieren, gehen die meisten vermutlich achtlos am Stand von Theo Kemme vorbei. Er steht unten, in Halle 8, zwischen Anbietern von Aufklebern, Modellautos, Werkzeugen und allerhand anderem Kleinkram. Weit weg, zumindest gefühlt, von der Glitzerwelt, zu der die Messe durch das verstärkte Auftreten großer Hersteller inzwischen geworden ist.

Trotzdem findet Kemme seine Kunden. Oder sie finden ihn: Seine Ware interessiert nur ganz besondere Spezialisten. Er verkauft Teile für Marken, deren Name selbst eingefleischten Automobil-Aficionados kein Begriff mehr sind.

In einer Kiste an seinem Stand stehen uralte Lenkräder, komplett mit Stangen bis runter zum Lenkgetriebe. An einer Wand hängen blitzende Hupen für Wanderer, Lampengehäuse für Minerva, Wagenheber für Mercedes SSK, Signalpfeifen und nahezu prähistorische Feuerlöscher. In der Ecke des 14-Quadratmeter-Standes hängt ein Emailleschild: "Die neuen Röhr Werke Ober-Ramstadt Automobilfabrik freuen sich auf Ihren Besuch!" ist da zu lesen. "Original," sagt Kemme stolz, "das hing einst über dem Haupteingang des Röhr-Werkes."

Röhr? Wanderer? Minerva? Die wenigsten Menschen kennen heute noch diese deutschen Autohersteller, die ihr Glück zwischen 1900 und 1930 versuchten. Deshalb gibt es auch nicht viele Sammler und Liebhaber dieser Autos, und Kemme glaubt, dass die wenigen noch existenten auch bald aussterben: "Wer will heute noch ein Auto mit der Kurbel anwerfen, bei dem man erst den richtigen Zündzeitpunkt einstellen muss, das nur mit großer Muskelkraft rangiert werden kann, kein synchronisiertes Getriebe besitzt, das Gaspedal in der Mitte hat und alle tausend Kilometer voll abgeschmiert werden muss?", fragt er.

Der Traum eines jeden Autoschraubers

Kemme ist einer von nur noch wenigen professionellen Vorkriegsautoteilehändlern, die es in Deutschland gibt. Aber was heißt professionell? Der gelernte Elektriker ist Rentner und hat das Handeln mit den Pretiosen eigentlich gar nicht nötig: "Mich treibt allein die Begeisterung für das alte Handwerk," sagt er, "keine Maschine schafft es, das Holz für Lenkräder so zu bearbeiten, dass es der Qualität alter Volante entspricht." Und dann verrät er, dass er auch selber restauriert. Metallteile, die nicht mehr aufzutreiben sind, baut er nach.

Das wollen wir sehen. Wir verabreden uns bei ihm zu Hause im Osnabrücker Land, wo er "noch ein paar Sachen rumliegen hat", wie er sagt. Hier wohnt Kemme in einem kleinen Ort, in einem Anbau seines Hauses steht der Traum eines jeden Schraubers: eine Werkstatt, um Metallteile anzufertigen. Ein Bohrer, eine Fräse, eine Drehmaschine - Kemme restauriert und baut hier unter anderem Lampen, Hupen, Karbidbehälter, Auspuffrohre und inzwischen zudem Zierleisten, auch wenn die eher zu Autos der Fünfziger- und Sechzigerjahre passen.

Dann zeigt er auf zwei antiquarische Positionsleuchten irgendeines mehr als hundert Jahre alten Schnauferls und erklärt sein Problem: Er soll sie restaurieren, ausbeulen, Kratzer entfernen, aber dazu muss er den obersten Deckel demontieren. Der ist genietet. "Ich muss jede Niete rausbohren, die Teile restaurieren, neue Nieten herstellen und wieder einbringen," erklärt er den Aufwand, der solche Dinge so teuer macht. Ganz abgesehen von den Teilen selber, die heute extrem selten sind.

Leben in der absoluten Nische

Daneben steht eine merkwürdig geformte Blechtonne. "Ein Cehal-Zusatztank, wie sie der Mercedes Nürburg con Rudolf Caracciola besaß," sagt er und zeigt Fotos, auf denen der Rennfahrer mit seinem Auto und dem Blechteil zu sehen ist. "Den hat ein Kunde gesucht, weil er einen Wagen aufbaut, der genauso aussehen soll wie der von Karratsch." Lange hat Kemme danach gesucht. Jetzt wartet er, ob der Auftrag zur Restaurierung kommt.

Er führt uns nach oben, in sein Lager. Ein Schrank ist voller Hupen - unrestauriert, teilrestauriert, voll restauriert, ein paar neue Hupendeckel liegen daneben: "Die waren damals nur draufgedrückt," weiß Kemme, "die sind alle verloren gegangen. Deshalb habe ich sie nachgemacht." Eine Hupe in Miniaturformat ist sein Lieblingsteil; "Vom Motorrad," weiß er, "die gibt's so gut wie gar nicht mehr." 1500 Euro ruft er dafür auf, "und die Kunden halten mich alle für verrückt. Bis sie merken, dass sie so ein Teil nicht mehr bekommen".

Dann holt er einen Scheinwerfer heraus, riesig, der erste von Carl Zeiss Jena, mit Kettchen dran: "Damit konnte man das Licht abblenden," strahlt Kemme, "und das schon vor hundert Jahren". Dann zeigte er sein teuerstes Exponat: Ein voll restauriertes Lenkrad eines Mercedes SSK. 6000 Euro soll es kosten, und die wird er dafür auch bekommen.

Kemmes Liebling: Ein italienischer Traumwagen

Gegenüber der vollgestopften Lampenregale lagern alte Anlasser, kiloschwere Autoradios, Glühlampen. In einer dunklen Ecke hängen Speichenräder, ganz hinten zwei von einem der legendären Rumpler-Tropfenwagen, der in seiner sehr speziellen aerodynamischen Form seiner Zeit so sehr voraus war, dass Rumpler die Modelle nicht verkaufen konnten und die letzten Exemplare in Fritz Langs Monumentalwerk "Metropolis" im Showdown verschrottet wurden. Teile von Armaturenbrettern und Instrumente sind zu finden, echte und nachgemachte Firmensymbole, Kühlerdeckel original und neu. Es ist ein Eldorado für Nerds.

"Mich fasziniert eben alles, was technisch kompliziert und selten ist," fasst Kemme seine Leidenschaft zusammen, die 1974 mit dem Kauf des ersten Vorkriegswagen begann: "Ich wollte einfach etwas fahren, was andere nicht haben."

Bleibt die Frage, wo er all das Zeug her hat: gesammelt, gekauft, gefunden, getauscht. Bei Kunden, auf Messen, in Läden. Wenn er mal nicht für sein Geschäft arbeitet, schraubt er an eigenen alten Autos. Der Chrysler Plymouth, Baujahr 1934, steht gerade in einer Sonderausstellung eines Museums, aber da ist ja noch der Mercedes Mannheim, ein seltenes ehemaliges Rallyeauto einer sportlichen Lady samt Sonderkarosserie. Der Wagen wartet in einer Remise neben einem Opel Kadett B, an dessen Restaurierung seine Nichten den Spaß verloren haben, eingerahmt von diversen mächtigen und uralten Maybach-, Mercedes- und Chrysler-Motoren, auf Fertigstellung.

Nichts verkauft? Nicht so schlimm

Sein jüngstes und aktuellstes Projekt ist dagegen noch gar nicht so alt. Versteckt steht es auf Holzböcken: ein Iso Grifo Cabrio. "Nur vier Stück wurden gebaut, und dieses ist das einzige Exemplar in Deutschland," sagt Theo Kemme ein bisschen stolz. Eine italienische Karosserieschmiede wollte es eigentlich aufbauen, verlor aber das Interesse daran, nachdem das gesamte Blechkleid neu gedengelt war.

Jetzt hat Kemme ein Verdeckgestänge ersonnen, gebaut, verschraubt. "Der wird bald fertig", sagt er. Die restlichen Teile des Autos liegen oben in seinen Regalen, und wenn Kemme behauptet, er wüsste ganz genau, was er hat und wo jedes Teil ist - was übrigens auch für den gesamten Bestand an Altteilen gilt -, kann man ihm das problemlos glauben.

Auf der TechnoClassica dieses Jahr hat Kemme kaum ein Stück seiner zur Messe mitgebrachten Teile verkauft, so schön sie auch sein mögen - wie die kniende Lady aus Glas: eine von innen beleuchtbare Kühlerfigur, geschaffen vom Meister dieses Genres, René Lalique. Aber 20 Kunden fragten nach anderen Dingen, die er entweder besorgen kann oder tatsächlich im Fundus hat. "Präsenz ist alles. Wenn ich dort nur zwei gute Geschäfte abschließe, lohnen sich bereits die 2000 Euro Aufwand für die Messe," sagt Kemme.

Die nächsten Jahre steht Kemme wieder dort. TechnoClassica, Halle 8, Stand 429. Und zwar so lange, wie es Menschen gibt, die das gleiche Faible teilen wie er.

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