Am 30.06.2013 berichtete der "Welt"-Chefreporter Stefan Anker über sein Kindheitserlebnis mit dem Opel kadett A
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http://www.welt.de/motor/article117541940/So-erlebte-ich-meinen-alten-Opel-Kadett-A-neu.htmlIn einer Serie entdecken Redakteure der "Welt" die Autos ihrer Kindheit neu. Im ersten Teil spürt Stefan Anker im Kadett A seinen Erinnerungen nach. Die Kastenform war für ihn das ultimative Auto.
Es war einmal ein kleiner Junge, drei, höchstens vier Jahre alt. Ungeduldig wartete er jeden Tag darauf, dass sein Vater von der Arbeit kam. Denn wenn der kleine Junge Glück hatte, dann stellte der Vater den Motor seines Opel Kadett gar nicht erst ab, sondern fuhr mit seinem Sohn noch "eine Runde ums Karree".
Wir wohnten in Flensburg, binnen zwei Minuten hatte mein Vater mit dem Auto den Stadtrand erreicht und fuhr über kleine Landstraßen Richtung dänische Grenze. Es war hügelig, die Felder waren gesäumt von Knicks, unübersichtliche Kurven gab es und im Sommer dunkle Schattengassen. Ich genoss diese Fahrten, vor allem wenn mein Vater das Auto bergab rollen ließ und theatralisch ausrief: "Oh, ich kann nicht bremsen!"
Das alles parkte sehr tief in meinem Gedächtnis, als dieser 50 Jahre alte Opel Kadett vor mir stand und viele Erinnerungen wieder lebendig machte. Nein, es war nicht genau das Auto, das mein Vater besessen hatte, sondern ein Schaustück aus der Opel-Sammlung. Aber das ändert ja nichts. Die Farbe war gleich, und dann diese charakteristische Kastenform – das ultimative Auto. Das Auto meines Vaters.
Wir sind eine Autofahrerfamilie. Nicht wie die Stucks oder Daimlers, aber wenn ich in den Stammbaum schaue, ist es keine Überraschung, dass ich hauptberuflich über Autos schreibe. Mein Vater war Vielfahrer, er reiste als Vertreter für Eisenwaren über die Landstraßen (Autobahnen sind ihm immer ein wenig fremd geblieben) und verkaufte den Tischlern des nördlichen Schleswig-Holsteins Baubeschläge aller Art.
Chauffeur im Horch
Und der Vater meines Vaters war Chauffeur, erst ebenfalls im Opel, danach im Horch. Erst für Industrielle, später auch für Parteifunktionäre, er kam bis in die Ukraine, ich denke nicht so gern darüber nach. Opa war jedenfalls sehr deutsch.
Und Opa war der Meinung, dass sein Sohn die Chance ergreifen solle, nicht nur ein kaufmännischer Angestellter zu sein, sondern ein "Reisender". Also stand eines Tages der Kadett vor der Tür. Meine Eltern wissen nicht mehr, wie viel er genau kostete. Aber da mein Vater nur rund 600 Mark im Monat verdiente, wäre ohne Opas Hilfe der neue Opel so schnell nicht drin gewesen.
Der Kadett aus der Opel-Sammlung ist das Modell "L" (für Luxus), und es hat ein dunkelblau lackiertes Dach zur weißen Karosserie, außerdem ein Radio, von Blaupunkt. 1963 waren für diesen Kadett L laut Opel 5750 Mark zu zahlen. Heute mag ein vergleichbar großer Corsa das Vierfache kosten, aber wenn man den ersten Kadett der Neuzeit und den aktuellen Corsa vergleicht, weiß man, dass früher nicht alles besser war.
Lassen wir den technischen Fortschritt (Airbags, ABS, ESP etc.) einmal beiseite und unterstellen, dass sich das Auto in seinen Eigenschaften nie geändert hätte, nur im Preis. Selbst dann ist – angesichts der deutlich gestiegenen Einkommen – ein Corsa des Jahrgangs 2013 (ab 11.890 Euro) ein Schnäppchen gegen den Kadett von damals.
Bremsen wirken zaghaft
Ich habe bei meinen Erkundungsfahrten mit dem Museums-Kadett versucht, mich daran zu erinnern, wie früher der Verkehr war. Natürlich weiß ich, dass in den 60er-Jahren weniger Autos auf der Straße fuhren, aber eine bewusste Erinnerung daran habe ich nicht. Die zaghaft agierenden Bremsen des Kadett geben allerdings einen Hinweis darauf, dass damals jedes Auto mehr Platz gehabt haben muss.
Die Abwesenheit der Sicherheitsgurte, an die ich mich die ganze Woche mit dem Kadett nicht gewöhnen konnte (immer wieder griff ich vergeblich nach hinten), hat aber Bilder aus meiner Kindheit in die Gegenwart geholt. Ich sehe jetzt wieder, wie mein jüngerer Bruder und ich uns auf der Rückbank um den mittleren Platz stritten, weil man zwischen den Sitzen stehend (!) so schön nach vorn gucken konnte. Wie wir gemeinsam auf den Polstern knieten und hinten herausschauten. Wie ich bei den Fahrten ums Karree vorne sitzen durfte.
Da war mein Vater ziemlich locker. Später, als wir größer wurden (und dem Kadett ein Mercedes 200 D, ein Mazda 818, ein VW Passat folgten), durften mein Bruder und ich sogar immer mal mit der linken Hand ein bisschen lenken. Nur als wir erwachsen waren und den Führerschein hatten, durften wir mit dem Auto meines Vaters nichts anstellen.
Mein Vater verlieh sein Auto nicht (inzwischen war es ein Mazda 626), da gab es keinen Verhandlungsspielraum. Andererseits übte er mit mir, als ich noch Fahrschüler war, und ich durfte eines Sonntags sogar ans Steuer, er rechts daneben. Plötzlich sahen die Landstraßen rund um Flensburg unheimlich aus, aber mein Vater sagte vor unübersichtlichen Kurven und Kuppen einen Satz, den ich bis heute beherzige: "Dahinter kommt keine Treppe." Zügig weiterfahren bedeutet das, wird schon gehen.
Das Auto wurde von 1962 bis 1965 gebaut und hat ein Leergewicht von 670 Kilo, einen Einliter-Ottomotor und 48 PS. Für den Spurt von null auf 100 braucht er 26 Sekunden. Die Definition von zügig
Zügig war ein Lieblingswort meines Vaters, wenn es ums Autofahren ging. Zügig bedeutet: Ich rase nicht, aber ich gebe schon ein bisschen Gas. Allerdings war aus den 40 PS des kleinen Kadett nicht allzu viel herauszuholen. In den ersten zwei Gängen zieht das Motörchen noch ganz munter los, aber dann braucht man Geduld. Dafür läuft der Vierzylinder verhältnismäßig leise.
Opel, man glaubt es kaum, baute damals die besseren Autos als VW. Ein Kadett A ist einem Käfer überlegen: Mehr Platz, mehr Leistung, mehr Komfort, das allerdings auch zu höherem Preis. Heute ist Opel weit hinter VW zurückgefallen, auch erlöst man längst nicht mehr dasselbe Geld für vergleichbare Modelle.
Ob Opel jemals wieder auf einen grünen Zweig kommt? Ich wünsche es mir, aber mehr aus Sentimentalität (kein anderes Industrieprodukt weckt Gefühle wie ein Auto). Der bekannte Automobilwirtschaftler Ferdinand Dudenhöffer sieht das nüchterner: Die Entscheidung, Opel nicht auf dem chinesischen Markt antreten zu lassen, verschärfe die Lage der Marke. "Jeder größere Mittelständler in Deutschland hat eine prägnantere Wachstumsstrategie als Opel."
Dürres Steuer, weiche Polster
Ich habe neulich meine Eltern besucht, mein Vater wird bald 78. Wir haben uns nicht über die Lage von Opel unterhalten, aber über das Fahren mit dem Kadett: Es ging um die hakelige Schaltung, die schwierige Startprozedur (nehme ich den Choke oder trete ich lieber sieben Mal das Gaspedal durch?), das dürre Lenkrad und den bemerkenswerten Sitzkomfort auf sehr weichen Polstern. Außerdem erinnerten wir uns an Urlaubsfahrten mit der ganzen Familie; die Oma war noch dabei, wir waren also zu fünft, wie war das nur möglich?
Ganz leicht: Ein Auto war 1965, als der Kadett in unsere Familie kam (zwei Jahre vor dem ersten Fernseher), kein Massenartikel. Wie viele andere Familien haben sich auch die Ankers aus Flensburg den Beschränkungen ihres Wagens gern unterworfen. Man war froh, ihn zu haben, denn er fuhr, allein das war wichtig, überall hin. Nicht nur ums Karree.
Der künftige Autor am Kadett seiner Eltern im Jahre 1965.